Rede bei der Demo gegen die neuen Sozialgesetze (Hartz IV) am 29.1.04 Grüß Gott, mein Name ist Holger Forssman. Ich bin evangelischer Gemeindepfarrer in Erlangen St.Peter und Paul. Als ich angefragt wurde, ob ich heute ein paar Worte sprechen würde, habe ich gerne zugesagt. Die neuen Gesetze lassen uns Christen nicht gleichgültig. Auch wenn die Auswirkungen noch nicht jedem völlig klar sind, gibt es Gründe zur Besorgnis. Es ist für mich deutlich spürbar, daß in unserem Land die Armut zunimmt. Noch sind es verhältnismäßig wenige, die hungern und frieren. Aber ihre Zahl steigt. Und heute schon sind es nicht mehr wenige, die ausgeschlossen sind. Ausgeschlossen von einem normalen bürgerlichen Leben. Einem Leben, in dem man eine Wohnung hat mit einem Telephonanschluß und warmem Wasser. Einem Leben, in dem man sich frei bewegen kann, in dem man Freunde und Verwandte besuchen kann, auch wenn sie in einer anderen Stadt wohnen. Einem Leben, in dem man teilhaben kann an gemeinsamen Vergnügungen mit anderen Menschen, zum Beispiel an einem Volksfest. Einem Leben, das auch würdig zu Ende gehen darf, ohne daß man nachrechnen muß, ob eine Erdbestattung auf dem Zentralfriedhof überhaupt bezahlbar ist oder ob es doch das anonyme Urnenfeld in Steudach sein muß. Ja, die Armut nimmt zu. Ich könnte jetzt Geschichten erzählen aus meiner Kirchengemeinde. Geschichten von Menschen, die ausgeschlossen sind von all diesen Dingen, die ich jetzt aufgezählt habe. Nur ein Hinweis: Wenn ich vor zehn Jahren in der Grundschule Kinder nach ihren Wünschen für ihre Zukunft fragte, erzählten sie voller Selbstvertrauen: Ich werde einmal Tierärztin und ich Busfahrer - und so weiter, was Kinder sich eben vorstellen. Wenn ich heute frage, bekomme ich mutlose Antworten von Kindern, die bereits als 9jährige realisiert haben, daß sie keine Chance bekommen werden: Ich werde einmal von Sozialhilfe leben, vielleicht kann ich bei anderen Leuten putzen gehen. In unserem Land wachsen also Kinder heran, die nicht einmal mehr zu träumen wagen. Und ich habe den Eindruck, daß die neuen Gesetze daran nichts ändern werden. Ich habe den Eindruck, daß die Armut nicht entschieden genug bekämpft wird, sondern nur auf eine neue Weise verwaltet werden soll. Aber wir dürfen uns mit den immer weiter wachsenden Unterschieden in unserem Land nicht einfach abfinden. Angeblich sind sie unvermeidbar. Angeblich sind das die Gesetze des Marktes. Wenn das stimmt, dann sind es tödliche Gesetze, und es wird Zeit für bessere Gesetze, die allen ein gutes Leben ermöglichen. Als Christ nehme ich aufmerksam wahr, wenn Glaubensbekenntnisse ins Spiel kommen. Wir hören seit Jahren das Bekenntnis der Liberalisierung: Alles wird besser, wenn wir den Gesetzen des Marktes freie Bahn geben. Daß es sich hier um ein Glaubensbekenntnis handelt, ist leicht zu merken. Wir sehen es daran, daß die Liberalisierung von ihren Verfechtern als einziger Weg ohne jede Alternative vorgestellt wird. Und wir sehen es daran, daß die Anhänger dieses Glaubens gegenläufige Erfahrungen entweder übersehen oder wegerklären. Es hat also keinen Sinn, die tausendfachen Erfahrungen ins Feld zu führen, die wir alle täglich machen. Es hat keinen Sinn, zum Beispiel darauf hinzuweisen, daß sich die Angebote von Post und Bahn seit der Privatisierung dramatisch verschlechtert haben. Statt dessen müssen wir eigene Glaubensbekenntnisse dagegensetzen. Wer darüber nachdenkt, sollte ruhig auch in die Bibel schauen. Denn die Probleme von heute sind nicht neu, sondern uralt. Ein Beispiel: Im neunten Jahrhundert vor Christus führte König Ahab in Israel die Verehrung neuer Götter ein. Es schien ihm zweckmäßig, daß Israel die selben Götter verehrte, wie die umliegenden Großmächte. Die neue Religion setzte auf das Wachstum. Und sie forderte einen Preis, nämlich Menschenopfer. Vor allem Kinder wurden geopfert. Gleichzeitig stellten sich Erfolge ein - aber nur für die Oberschicht. Immer weniger Leute wurden immer reicher. Immer mehr Leute wurden immer ärmer. Und Gott berief einen Propheten - Elia, um das Unrecht anzuprangern. In der Bibel - in der ganzen Bibel - ist das Wohlergehen der Armen der entscheidende Maßstab für eine Gesellschaft. Es geht nicht darum, daß alle gleichviel haben. Und Neid wird ausdrücklich verboten. Aber jeder soll genug haben, jeder soll gleichberechtigt teilhaben können an dem, was für die Gesellschaft wichtig ist. Die Armen zuerst - auf diesen Blickwechsel kommt es an. Auch heute. Und dieser Blickwechsel ist auch für die Reichen gesund. Denn Überfluß schadet und macht unglücklich - auch das können wir schon aus der Bibel lernen. Reichtum vergiftet die Seele, er macht einsam. Er trennt uns von Gott und unseren Mitmenschen. Wenn wir die Reichen zum Teilen auffordern, dann ist das ein liebevolles Angebot. Von entsprechenden Gesetzen würden alle profitieren. Reichtum darf es geben - solange jeder gut leben. Andernfalls ist er ein Problem für alle. Wenn ich gut leben kann, macht es nichts aus, ob mein Gegenüber an seinem Arm eine Uhr trägt, die mein doppeltes Jahreseinkommen gekostet hat. Wenn ich nicht gut leben kann, haben wir beide ein Problem. Ich wegen meines Mangels. Und er, weil er mir nicht in die Augen sehen kann. Es darf keine Armut geben - auf diesen Blickwechsel kommt es an. Und zwar weltweit. Die Spaltung der Welt in Arm und Reich ist ja nicht neu. Neu ist nur, daß sie sich inzwischen mitten in die reichen Länder hinein verlagert. Es entstehen nunmehr auch bei uns befestigte und hart verteidigte Inseln des Wohlstands inmitten eines Meeres von Armut. Es ist wichtig, daß wir bei uns anfangen, für einen gerechteren Ausgleich zu sorgen, bevor diese Entwicklung sich verschärft. Aber wir dürfen dabei nicht aufhören. Denn die Armut in anderen Teilen der Welt ist noch größer. Und sie hat unmittelbare Auswirkungen auf die Armut in unserem Land. Solange es dort Menschen gibt, die froh sind, für 50 ct. in der Stunde am Fließband zu stehen, können bei uns kaum Arbeitsplätze gehalten werden, geschweige denn neue entstehen. Die Kirche lebt weltweit - und es gibt kleine, mehr oder weniger erfolgreiche Ansätze, um mehr Gerechtigkeit wahrzumachen, weltweit und im eigenen Land. Es gibt die zarte Pflanze des fairen Handels. Es gibt Modelle, Arbeit und Geld gerechter zu teilen. Ich selber bin Stellenteiler. Die Kirche hat so Arbeitslosigkeit unter Theologen vermieden. Christen aus anderen Erdteilen fragen uns längst: Ihr lebt doch in den mächtigen Industrieländern. Warum macht ihr euren Einfluß nicht geltend? Nun - unser Einfluß ist geringer, als man denken könnte. Die Kirche schafft es auch nur selten, mit einer Stimme zu reden. Aber im Grunde ist unser Auftrag klar: Geld ist dafür da, geteilt zu werden. Sonst wird unsere Welt geteilt. Es soll keine Armut mehr geben. Jeder Mensch, vom Kind bis zum Greis soll gut leben können.